Schaut man hinter die Kulissen der Forensischen Psychiatrie läuft vieles falsch.
Zwei häufige Probleme
Ein Problem: das Schubladen-Phänomen.
Da werden die zu begutachtenden Personen vorgefertigten Kategorien (Schubladenproblematik) zugeordnet, anstatt ergebnisoffen den individuellen Einzelfall differenziert abzubilden. Dabei gilt für Gutachten (und auch generell) folgender Grundsatz: Wir müssen unser Denken den Phänomenen anpassen und nicht die Phänomene unserem Denken. Leider handelt es sich um ein Problem, dass in der Forensischen Psychiatrie weitverbreitet ist.
Das zweite häufig anzutreffende Problem besteht darin, sich in Gutachten auf unspezifische allgemein-klinische Klassifikationssysteme (ICD, DSM) zu fokussieren, die ausdrücklich nicht (!) dafür konzipiert und daher oft ungeeignet sind, persönlichkeitsbedingte Risiken (Risikoprofile) zu identifizieren.
Um dieser beiden Probleme zu verhindern, gibt es FOTRES mit seinen 121 Risikoeigenschaften. FOTRES ist ein spezialisiertes forensisches Diagnosesystem, um abseits von wenigen vorgefertigten Schubladen und den nicht für Risikobeurteilungen konzipierten krankheitsorientierten Systemen ICD und DSM das individuelle Risikoprofil abzubilden.
Die Sackgasse
Im Auftrag seines Rechtsanwalts habe ich über einen seit fast fünf Jahren in der Hochsicherheitsabteilung der Klinik Rheinau einsitzenden Patienten ein Privatgutachten erstellt. Meine Aufgabe war es unter anderem, die aktuelle Vollzugssituationen und das über ihn in der Vergangenheit erstellte Gutachten zu beurteilen. Dieses Gutachten war nun ein typisches Beispiel für die eingangs dargestellten Probleme, die man in Gutachten leider viel zu oft sieht (Schubladenproblem und einseitige Fokussierung/Beschränkung auf krankheitsorientierte Diagnosesysteme nach ICD oder DSM).
Entsprechend hatte es sich der Gutachter einfach gemacht. Er hat es versäumt, den Deliktmechanismus (also die psychologische Erklärung der Tat) sorgfältig herauszuarbeiten, so dass viele offene Fragen nach wie vor unbeantwortet waren. Nicht zuletzt deswegen und auch weil es sich die Klinik in all den fünf Jahren ebenso einfach gemacht hatte, befand sich der Patient mit seiner Therapie und seiner Unterbringung auf einer Hochsicherheitsstation in einer Sackgasse. Er ist damit übrigens kein Einzelfall.
Privatgutachten
Manch einer fragt sich vielleicht, warum ich überhaupt Privatgutachten für Anwälte erstelle. Der Grund ist nicht, dass ich zu wenig Aufträge habe und nach Arbeit suchen muss.
Aber ich übernehme solche Aufträge bisweilen darum, weil Anwälte ohne solche fachlichen Beurteilungen in der Regel chancenlos sind, gegen problematische Gutachten und Therapieberichte vorzugehen. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, kann daher aus meiner Sicht aus Gründen der rechtsstaatlichen Waffengleichheit keine Option sein. Denn es gibt nicht wenige fehlerhafte Gutachten und Täter, die zu Unrecht in eine aussichtslose Sackgasse geraten.
Um genau solch einen Fall ging es bei meinem Privatgutachten. Dabei gehe ich stets absolut ergebnisoffen vor, völlig unabhängig und unbeeinflusst davon, wer der Auftraggeber ist. Das sage ich einem privaten Auftraggeber auch von Anfang an. Wenn ich ein Gutachten erstelle, dann fällt das Ergebnis des Gutachtens so aus, wie ich den Fall beurteile. Das heisst, ein privater Auftraggeber kann und darf nicht damit rechnen, dass ein von ihm gewünschtes Ergebnis herauskommt. So wäre auch im vorliegenden Fall mein Gutachten nicht anders ausgefallen, wenn mich das Gericht beauftragt hätte.
Die entscheidende Frage ist daher auch nicht, ob es ein Privatgutachten ist, sondern ob der Inhalt des Gutachtens zutrifft oder nicht.
Die Klinik mauert
Und wie reagierte die Klinik auf mein Privatgutachten? Nahmen sie es dankbar zum Anlass, die bisherige Behandlung und die vorliegenden Einschätzungen zu überprüfen? Nein, sie ignorierten das Gutachten.
Man stelle sich die gleiche Situation in einem somatischen Fall vor. Ein Patient liegt mit einer schweren Erkrankung in einem Spital. Geplant ist eine komplizierte Operation mit erheblichen Risiken. Der Patient holt bei einem anderen Experten eine Zweitmeinung ein. Die Ärzte im Spital sagen: «Sie können privat schon einen zweiten Arzt hinzuziehen und um eine Stellungnahme bitten. Aber wir lesen das gar nicht erst, weil uns eine andere Meinung als unsere eigene gar nicht interessiert.»
Wir würden solche Ärzte wohl als unprofessionell und als Personen bezeichnen, die die Bodenhaftung verloren haben. Denn es ist falsch, es sich bequem zu machen und sich der sachlichen Auseinandersetzung mit meinen Argumenten mit dem Hinweis zu entziehen, dass es sich um ein Privatgutachten handelt. Im Übrigen bin ich wie bereits erwähnt der Meinung, dass Anwälte und Betroffene gerade in verfahrenen Situationen Zugang zu Fachmeinungen haben müssen, weil sie sich sonst gegen problematische Beurteilungen kaum zur Wehr setzen können.
Hier der Arikel von Mijam Kohler, BAZ vom 30. Juni 2023
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